Die Ahnen - Gustav Freytag
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Der Führer wandte sich ab, der Fremde aber sprach zu seinem Begleiter: »Du hörst seine Worte. Der Thüring haßt den Franken und beide den Sachsen, ein Stamm vertilgt den anderen, und die Ehre ihrer Helden ist, Männerblut zu vergießen und das wehrlose Geschlecht fortzutreiben, damit sie ihre Lust an ihm büßen und seine Rücken gebrauchen als Schemel für ihre Füße. Seit ich ein Knabe war in fernem Land, sah ich die Menschen wilde Frevel üben, Rauben und Töten war der Höllenschrei, der aus hunderttausend Kehlen kam. Wahrlich, der Erdgarten ist zu einer Wildnis geworden, überall Wustung und zertrümmerter Bau früherer Geschlechter, wie ein Rudel Wölfe bellen, die noch leben in der Einöde. Und wo noch ein Volk männerreich auf dem Boden haust, den es sich durch Brand und Mord gewann, da leben die Sieger zuchtlos, stets gierig nach Goldschatz und Fleischeslust. Gänzlich verderbt hat der üble Teufel dies Geschlecht, das er besitzt, und doch verstopfen sie die Ohren gegen die Botschaft der Gnade, auch wenn sie das Kreuz schlagen und sich Christen nennen. Keine Rettung gibt es für die, welche nach Gottes Ebenbild aufrecht gehen, als die eine, daß sie alle die harten Nacken beugen dem einen Herrn, von dem geschrieben steht: sanft ist mein Joch.«
In der Landschaft, welche sie jetzt betraten, lagen in den Tälern oder auf halber Höhe der Berge, wo ein kräftiger Quell aus dem Boden rann, hie und da Dörfer und einzelne Höfe fränkischer Ansiedler, die meisten Höfe klein, die Häuser zerfallen, notdürftig geflickt, daneben oft leere Brandstätten. Jeder Hof und jedes Dorf waren umwallt, aber auch Wall und Gräben waren verfallen und zerrissen. Nur wenig Leute sahen sie auf dem Felde, in den Dörfern rannten die Kinder und Frauen an den Hofzaun und starrten den Reisenden nach; stolz grüßte der Führer, und der achtungsvolle Gegengruß zeigte, daß er den Leuten für einen ansehnlichen Mann galt. Zuweilen war am Hausgiebel über dem Zeichen des Besitzers ein Kreuz gemalt, dann segnete der Reisende die Bewohner an der Tür mit dem Christengruß, erstaunt vernahmen ihn die Leute und eilten auf die Reiter zu. Aber der Führer trieb hastig vorwärts und im Trabe der Rosse verklangen die Zurufe und Fragen. Wieder kamen sie an ein Dorf, ohne Zaun standen die hohen Strohdächer, welche fast bis zum Boden reichten, selbst die Fliederbäume fehlten, welche ihre schwarzen Beeren sonst in jedem Hofe wiesen. Nackte Kinder, bräunlich und schmutzbedeckt, wälzten sich neben den Ferkeln auf der Dungstätte, kleiner waren die Leute, rundlich und platt die Gesichter und statt der bedächtigen Ruhe, mit welcher die Reiter anderswo von den Dorfbewohnern begrüßt wurden, tönten ihnen hier lautes Geschrei, Schelte und Verwünschungen in fremder Sprache entgegen.
»Sind die Fremdlinge häufig auf eurem Grunde?« fragte der Fremde.
»Es sind Wenden von ostwärts, in mehren Dörfern hausen sie hier und in Thüringen, sie zahlen Zins dem Grafen des Frankenherrn, aber übelgesinnt bleiben sie und widerbellig.«
Er hielt das Pferd an und horchte auf die Verwünschungen, welche ihnen von einem häßlichen Weib nachgeschrien wurden, dann spornte er wieder das Pferd und rief: »Vorwärts!« Schnell fuhren sie dahin, der Führer richtete sich oft im Sattel auf und wandte die Augen rechts und links. Nach einer Weile ritt der Fremde an seine Seite: »Gefällt dir‘s, so sage mir, was unsere Rosse so flüchtig vorwärts treibt.«
»Nur wenig verstehe ich die Sprache der Wenden,« antwortete Ingram, »aber das Weib, der arge Lasterbalg, wünschte uns Unheil, wenn wir auf unserem Wege den Kriegern ihres Volkes begegnen würden. Unruhe ist in der Luft, schon seit dem Morgen fliegen die Habichte und Krähen nordwärts. Mich reut‘s, daß ich solche nicht gefragt habe, die in unserer Sprache reden.« Er rief seinem Rosse zu und flog voraus, die Reisenden hatten Mühe, ihm zu folgen; dem nächsten Hofe, welcher auf einer Höhe sichtbar wurde, ritt er in gestrecktem Laufe zu und winkte den anderen, zurückzubleiben. Die Reisenden sahen ihn auf dem Hügel halten, bald jagte er wild herunter und vor ihnen dahin. Als sie endlich einen steilen Aufstieg erreichten, fragte der Fremde: »Willst du uns nicht sagen, ob Gefahr droht?«
»Der Hof war leer, auch die Ställe leer, jedes Haupt entwichen, mich wundert, daß kein Flüchtling uns entgegenkommt«, versetzte der Führer finster.
»Vorwärts,« rief er, »wenn ich euch nicht verlassen soll.«
»Gedenkst du die Gefahr zu meiden, wenn wir vor dem Abend die Rosse ermüden?« bemerkte der andere ruhig.
»Ich will sehen«, versetzte Ingram kurz und ritt wieder vor.
So ging es eine Stunde vorwärts, durch Buschholz und über Wiesengrund, endlich sahen sie in der Entfernung seitwärts vom Wege einen großen Hof unter Lindenbäumen, das Roß des Führers flog wie ein Pfeil dem Hofe zu, sie erkannten, daß der Führer einigemal anhielt, dann mit weiten Sprüngen hinter den Bäumen verschwand. Langsamer folgten die Reisenden. Da sie herankamen, fanden sie das Dach zerrissen, die Tür eingeschlagen, die Kohlen eines Feuers vor dem Hause. Der Führer beugte sich über etwas, das im Grase lag. Es war ein toter Mann, das Haupt durch einen Keulenschlag gebrochen. »Dies war der Wirt des Hofes«, sprach der Führer mit zuckendem Munde. »Er war von Geschlecht ein Franke, aber ein gastfreier Mann. Und er ist gefallen als ein Krieger. Seht dorthin.« Erde war aufgewühlt und zu zwei runden Hügeln geschichtet. »Die Räuber haben ihre Toten begraben.«
»Wann ist es geschehen?« fragte der Fremde traurig.
»Gestern bevor der Tag warm wurde«, versetzte der Führer und wies auf den Leib eines Slawenrosses, das durch einen Speerwurf des Hofbesitzers getroffen, daneben lag. Der Fremde sprang ab und eilte nach dem Hause: »Komm, daß wir Hilfe bringen, wenn dort noch jemand atmet.«
»Du sorgst vergeblich«, versetzte der Führer. »Seine Tochter Walburg und seine kleinen Knaben sind fortgetrieben. Die Kuh mit der Blesse ist geschlachtet, auf seinem Rosse Goldfeder sitzt ein Slawe; die Wenden wissen aufzuräumen, sie lieben nicht halbes Werk.«
Der Fremde ergriff einen Spaten und begann ein Grab zu schaufeln. »Ratsam wäre dir, von dieser Stätte zu entweichen«, rief der Führer unruhig. Der andere wies auf ein Kreuz, das mit blauem Waid in den nackten Arm des Toten gezeichnet war: »Er ist von meinem Glauben und ich darf nicht gehen, bevor ich seine Hülle vor Wolf und Geier gesichert habe.«
Der Führer trat zurück und murmelte: »Mancher Mann, der das Kreuz geschlagen, liegt heut still auf blutigem Grunde.« Die Reisenden höhlten das Grab, legten den Toten hinein, knieten zum Gebet, deckten das Grab mit Erde und steckten ein Holzkreuz darauf. Dann winkte der Fremde den Jüngling hinweg und blieb allein vor dem Erdhaufen liegen.
Unterdes war der Führer vorwärts geeilt auf der Spur der Feinde, wie ein Jagdhund sprang er über den Grasgrund; schon harrten die Fremden seiner, als er mit glühendem Antlitz zurückkehrte. »Ich erkannte die Fährte, die Fußtritte des Weibes und der Kinder; nur eines der Rosse war beschlagen, ich meine, das ist ein Pferd des Ratiz, des Sorbenhäuptlings. Ich treffe ihn wohl in wenig Tagen«, rief er drohend. – »Beantworte mir eine Frage, Fremder: Würdest du dich freuen, den Ratiz erschlagen zu sehen mit seinem Haufen?«
»Nein«, versetzte der Fremde.
»Er hat Männer deines Glaubens getötet und führt ihre Kinder in elende Knechtschaft.«
»Nein, sage ich dir«, wiederholte der Fremde.
Der Führer raunte einen Fluch, plötzlich trat er zu dem Roß des Fremden: »Bekenne mir, was führst du in dem Ledersack, den du so sorglich hütest?«
»Nicht ziemt dir solche Frage,« versetzte der Reisende kalt, »und ich weigere dir die Antwort.«
»Ich meine, du hast Armringe darin und Silber, wie es die fremden Kaufleute in das Land bringen«, sprach der Führer und starrte begehrlich auf den Ledersack.
»Vielleicht ist darin, was du nennst,« sagte der Fremde, »vielleicht auch nicht, was kümmert‘s dich. Dein kann es nimmer werden.«
Der Führer sah ihn mit feindseligem Blick an, dann fuhr es über sein Gesicht wie ein Krampf, er warf sich auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der Fremde ergriff seine Axt, stellte sich vor den Liegenden, zog ihm die Hand vom Antlitz und legte die Axt hinein. »Hier ist die Waffe, mein Sohn, und hier ist das Haupt eines wehrlosen Mannes, willst du treffen, so versuche den Schlag. Willst du lieber hören, so achte auf das Wort eines älteren Mannes.« Ingram ließ die Waffe ins Gras fallen und saß mit geneigtem Haupt auf dem Boden. »Ich weiß, was dich verstört,« fuhr der Fremde fort, »die Räuber treiben ein junges Weib in ihre Berge, du denkst daran, sie zu entledigen mit den Waffen oder durch Kauf, und du meinst, der fremde Mann soll dir dazu dienen. Spreche ich Wahrheit, so antworte.«
»Sie sprach stolz zu mir,« antwortete er leise, »weil ich nach dem Brauch meiner Väter beim Roßopfer unter der Eiche stand, aber mir ist greulich, daß sie in der Hand des Ratiz bleiben soll, und in meine Seele fiel es wie ein Strahl aus den Wolken, daß ich eilen muß, sie loszukaufen. Dann führe ich sie als Gefangene heim, sie wird mein eigen, und ich ihr Herr.«
»Und sie muß tun nach deinem Willen«, sprach der Fremde kalt; »wie aber, wenn dein Feind Ratiz ebenso denkt?«
Der Führer knirschte mit den Zähnen und warf sich wieder in das Gras.
»Sie sind wie die Bestien«, sagte der Fremde in lateinischer Sprache. »Steh auf, Führer,« befahl er mit ruhigem Tone, »und vollende vor allem, was du gelobt hast. Jetzt fordert deine Ehre, daß du uns sicher in deine Heimat bringst, wenn wir dir auch fremd und unwillkommen sind. Bist du erst frei von dieser Pflicht, dann erwäge, welches die nächste sein wird. Aber vergiß nicht, daß das Weib, welches du dir begehrst, unter mächtigem Schutz dahin zieht auf dornigen Pfaden. Denn sie wird geleitet durch die geflügelten Boten meines Gottes, die Engel, damit sie erhalten werde für diese Welt oder hinaufgeführt in den Himmelssaal der Christen. Trägt sie auch Sorbenbande, dennoch ist sie in der Hand eines gütigen Vaters, der alle hört, die in der Not ihn anrufen. Will er, daß sie gelöst werden soll durch dich, so wird es geschehen. Du aber tue, was jetzt deines Amtes ist.«
Der Führer stand auf, schüttelte sich und sprang stumm in seinen Sattel. So zogen die Wanderer weiter nach Norden, jeder mit sich beschäftigt, der Fremde sprach nur selten einige lateinische Worte zu seinem Begleiter. Als die Sonne sank, betraten sie die finstern Wälder des Gebirges, welches die Thüringe von den Franken scheidet.
Sie hörten hinter den Bäumen Hundegebell und dazwischen ein tiefes mißtönendes Gebrumm. »Führst du uns in eine Bärenhöhle?« fragte der Fremde.
»Hier wohnt Bubbo, der Landfahrer,« versetzte der Führer, »er fängt Bären, weiß ihre Wut zu bändigen und verkauft sie weit südwärts im Lande der Franken, an Herrenhöfe, zuweilen auch an fahrendes Volk. Sein Hof ist im ganzen Lande gefürchtet, er hat Frieden bei Freund und Feind und versteht manche geheime Kunst.«
»Er ist von deinem Glauben?« fragte der Fremde.
»Wenige wissen, zu welchen Göttern er fleht«, sagte der Führer.
»Dann laß uns den ungastlichen Hof meiden.«
»Sieh auf den Himmel, die Nacht bringt Regen, dein Knabe und eure Pferde bedürfen Nachtrast, denn morgen steigen wir über den Wald auf wildem Wege, wo kein Wirt uns aufnimmt.«
Der Mann blickte auf den Jüngling an seiner Seite und gab schweigend ein Zeichen der Gewähr. Da sie näher kamen, wurde das Gekläff der Rüden wilder, die grunzenden Stimmen einer Bärenfamilie mischten sich darein, und als Ingram an das Tor schlug, tobte der Lärm so arg, daß der Fremde ein Kreuz schlug. Lange pochte der Führer, endlich klangen Menschentritte und rauher Zuruf an die Tiere; Ingram rief seinen Namen durch das Tor, der Sperrbalken wurde zurückgeschoben, und eine riesige Männergestalt trat in den Türspalt. Der Führer sprach leise mit dem Wirt. Durch kurze Handbewegung lud dieser zum Eintritt, er faßte die zitternden Pferde am Zügel und zog sie in den Hof, den er hinter ihnen wieder verschloß. Die Reisenden entlasteten ihre Tiere im Dunkel, dann führten Ingram und der Wirt die Rosse nach einem Stall. Als die Männer auf den gestampften Lehmboden der Hausflur traten, hielt der Wirt eine Kienfackel an die züngelnden Kohlen des Holzklotzes, der auf dem Herde lag, und leuchtete mit der rußigen Flamme seinen Gästen in das Gesicht. Da er das Antlitz des Fremden erkannte, trat er zurück, die Fackel entglitt seiner Hand und sprühte auf dem Boden, bis der Führer sie faßte und in den Eisenring am Herde steckte.
»Nimmer hätte ich geglaubt, dein Angesicht in meiner Hütte zu finden. Unhold war der Gruß, den du mir botest, da ich dich das erstemal sah; mit meinen Bären ließest du mich weghetzen von dem Haus deiner Gastfreunde.«
»Und da ich dich zum zweitenmal sah,« antwortete der Fremde ruhig, »löste ich deinen Hals von der Weide, die für dich gedreht war. Und da ich dich zum drittenmal sah, standest du als Täufling vor mir im weißen Hemd, und das heilige Wasser rann über dein Haupt.«
»Das Taufhemd ist lange zerrissen, es war das letztemal weniger wert als sonst wohl in früheren Jahren, wo ich mich in euer Wasser tauchen ließ; und ungern denkt der Mann an die Stunden der Not, in denen er ein Haupt vor fremdem Zauber gebeugt hat«, versetzte der Wirt scheu. »Du hast mir weh getan und du hast mir wohl getan. Dennoch meine ich, du bist ein Mann, großer Geheimnisse kundig, und auch mich rühmen die Leute als einen, der manches weiß. Und wenn ich dir Frieden gebe unter meinem Dach, so magst du zum Dank mich wohl noch manch Geheimnis lehren.«
»Ich will dich lehren,« sagte der Fremde, »wenn du Ohren hast zu hören.«
»Wohlan, so soll das Frühere ausgeglichen und vergessen sein und ich will dich halten als meinen Gast, dich und deine Begleiter mit Abendkost und Herberge, und ich grüße dich an meinem Herde, dich, Herr Winfried, vor dem die Leute knien und den sie Bonifazius und einen Bischof nennen.«
Als die Reisenden am Abend des nächsten Tages aus dem dunklen Fichtenwald ritten, schauten sie von der Berghöhe niedrige Hügel, in der Ferne offenes Land. Vor ihnen lag am Fuße des Berges ein Dorf, grau die Dächer, grau die Balken, rund herum ein Zaun aus Pfahlwerk und ein breiter Graben. Eng gedrängt standen die Häuser in den Dorfgassen, damit die Abwehr eines feindlichen Überfalls leichter sei. Außerhalb des Zaunes erhoben sich an der Berglehne zwei einzelne Höfe wenige Bogenschüsse voneinander entfernt. Zu jedem führte ein Fußpfad von dem Dorfwege ab. An dieser Wegscheide hielt Ingram und sagte kurz: »In das Land der Thüringe habe ich euch geleitet, dies ist das Dorf, dort ist der Hof des Franken, den sie einen Meier des Grafen nennen, und dort steht er selbst. Vollbracht ist, was ich gelobt, fahret dahin.«
Während die Fremden mit geneigtem Haupt ihrem Gott dankten und um Segen für ihren Eintritt flehten, jagte Ingram von dannen und war bereits hinter einem Vorsprung des Holzes verschwunden, als Winfried nach ihm aufsah. Von der anderen Seite aber kam der fränkische Verwalter ihnen entgegen, ein Mann mit grauem Haar und ernster Miene. Winfried bot ihm den Christengruß, und das Gesicht des Mannes rötete sich vor Freude, als er antwortete: »In aller Ewigkeit.« Und als ihm Winfried ein ausgeschnittenes Pergamentblatt hinhielt, das Erkennungszeichen, welches die Herrin dem Meier sandte, da nahm dieser ehrerbietig den Hut vom Haupte, ergriff selbst die Zügel der Rosse und führte die Fremden nach seinem Hofe.