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Matilda - Roald Dahl

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«Warum nicht, Fräulein Honig?»

«Weil ich zu Hause benötigt wurde, für die ganze Arbeit.»

«Wie sind Sie denn dann Lehrerin geworden?» fragte Matilda.

«In Reading gibt es ein Lehrerinnenkolleg», sagte Fräulein Honig. «Dahin fährt man mit dem Bus nur vierzig Minuten. Ich bekam die Erlaubnis, dorthin zu fahren, allerdings nur unter der Bedingung, daß ich jeden Nachmittag geradewegs wieder nach Hause kam, um zu waschen und zu bügeln und das Haus zu putzen und das Essen zu kochen.»

«Wie alt sind Sie denn da gewesen?» fragte Matilda.

«Als ich in das Lehrerinnenkolleg ging, war ich achtzehn», antwortete Fräulein Honig.

«Sie hätten doch einfach packen und weggehen können», sagte Matilda.

«Nicht ohne eine Anstellung», sagte Fräulein Honig, «und du darfst nicht vergessen, da hatte mich meine Tante noch so unter der Fuchtel, daß ich mich gar nicht getraut hätte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von einer sehr starken Persönlichkeit so voll und ganz beherrscht wird. Da wirst du wie ein Wackelpudding. Tja, so ist das. Nun kennst du meine trübselige Lebensgeschichte. Und jetzt hab ich genug geredet.»

«Bitte, hören Sie nicht auf», sagte Matilda, «Sie sind ja noch nicht fertig. Wie haben Sie es schließlich doch geschafft, ihr zu entkommen und in diese komische kleine Hütte zu ziehen?»

«Ah, das war vielleicht was!» sagte Fräulein Honig. «Darauf bin ich richtig stolz.»

«Erzählen!» bat Matilda.

«Nun gut», fuhr Fräulein Honig fort, «als ich also eine Stelle als Lehrerin bekam, teilte mir die Tante mit, daß ich ihr ziemlich viel Geld schuldete. Ich fragte sie warum. Sie sagte: ‹Weil ich dich jahrelang ernährt habe und weil ich dir die Schuhe und die Kleider gekauft habe!› Sie sagte mir, das sei in die Tausende gegangen, und ich müßte ihr das alles zurückzahlen, indem ich ihr in den nächsten zehn Jahren mein Gehalt gäbe. ‹Ein Pfund pro Woche gebe ich dir als Taschengeld›, sagte sie, ‹aber darüber hinaus kriegst du nichts.› Dann hat sie mit der Schulbehörde abgemacht, daß mein Geld direkt auf ihr Bankkonto überwiesen wird. Sie zwang mich, diese Erklärung zu unterschreiben.»

«Das hätten Sie aber nicht tun sollen», sagte Matilda, «das Gehalt war Ihr Schlüssel zur Freiheit.»

«Ich weiß, ich weiß», sagte Fräulein Honig, «aber ich war fast mein ganzes Leben lang von ihr abhängig gewesen, und ich hatte nicht den Mut oder den Verstand, einfach nein zu sagen. Ich hatte immer noch eine Heidenangst vor ihr. Sie konnte mir immer noch viel Böses antun!»

«Und wie haben Sie’s dann doch geschafft, ihr zu entkommen?» fragte Matilda.

«Ah», sagte Fräulein Honig und lächelte zum erstenmal, «das war vor zwei Jahren. Und es war mein größter Triumph.»

«Ach bitte, erzählen Sie», bat Matilda.

«Ich stand immer sehr früh auf und machte einen Spaziergang, während meine Tante noch schlief», sagte Fräulein Honig, «und da bin ich eines Tages auf diese Hütte gestoßen. Sie stand leer. Ich kriegte heraus, wem sie gehörte. Das war ein Bauer. Ich suchte ihn auf. Bauern stehen auch ziemlich früh auf. Er melkte gerade seine Kühe. Ich fragte ihn, ob ich dieses Häuschen mieten könnte. ‹In dieser Kate kann doch keiner leben!› rief er. ‹Die hat ja keinen Wasseranschluß und kein gar nichts!› – ‹Ich will da wohnen›, sagte ich, ‹ich bin eine Romantikerin. Ich hab mich in die Kate verliebt. Bitte vermieten Sie sie mir.› – ‹Bei Ihnen piept’s wohl›, sagte er, ‹aber wenn Sie drauf beharren, na, dann bitte schön. Die Miete beträgt zehn Pence pro Woche.› – ‹Hier haben Sie eine Monatsmiete im voraus›, sagte ich und gab ihm vierzig Pence, ‹und auch herzlichen Dank!›»

«Das ist ja super!» rief Matilda. «Da haben Sie ganz plötzlich ein Häuschen für sich gehabt! Aber woher haben Sie den Mut genommen, es Ihrer Tante beizubringen?»

«Das war ein harter Brocken», sagte Fräulein Honig, «aber ich habe mich dafür gerüstet. Eines Abends habe ich ihr zuerst das Essen gekocht, und dann bin ich hinaufgegangen und hab die paar Sachen, die mir gehörten, in einen Karton gepackt und bin wieder nach unten gegangen und hab verkündet, daß ich sie verlasse. ‹Ich habe ein Haus gemietet›, hab ich gesagt. Meine Tante ist explodiert. ‹Ein Haus gemietet!› hat sie geschrien. ‹Wie kannst du ein Haus mieten, wenn du nur ein Pfund in der Woche zur Verfügung hast?› – ‹Ich hab’s getan›, hab ich gesagt. ‹Und wovon willst du dir das Essen kaufen?› – ‹Das schaff ich schon›, hab ich gemurmelt, und dann bin ich aus der Haustür gestürzt.»

«Das war aber tüchtig!» rief Matilda. «So sind Sie schließlich doch frei gekommen!»

«Ja, schließlich war ich frei», sagte Fräulein Honig. «Ich kann dir nicht sagen, wie wunderbar das war.»

«Und Sie haben es wirklich geschafft, hier zwei Jahre lang nur mit einem Pfund pro Woche auszukommen?» fragte Matilda.

«Und ob ich das geschafft habe», sagte Fräulein Honig. «Zehn Pence zahle ich als Miete, und der Rest reicht gerade aus, für meinen Kocher und für meine Lampe Paraffin zu kaufen und dann noch ein bißchen Milch und Tee, Brot und Margarine. Mehr brauche ich wirklich nicht. Und wie ich dir schon gesagt habe, mittags in der Schule lang ich tüchtig zu.»

Matilda starrte sie an. Wie war Fräulein Honig doch tapfer gewesen. Sie wurde in Matildas Augen plötzlich zur Heldin. «Ist es hier im Winter nicht schrecklich kalt?» fragte sie.

«Ich hab ja meinen kleinen Paraffin-Ofen», sagte Fräulein Honig. «Du wärst ganz erstaunt, wie mollig ich es mir hier drinnen machen kann.»

«Haben Sie denn ein Bett, Fräulein Honig?»

«Genaugenommen eigentlich nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte wieder, «aber man sagt ja, es sei gesund, hart zu schlafen.»

Plötzlich war Matilda imstande, die ganze Situation in absoluter Klarheit zu erkennen. Fräulein Honig brauchte Hilfe. Sie konnte so nicht weiter existieren, nicht unbegrenzt lange. «Sie würden viel besser zurechtkommen, Fräulein Honig», sagte sie, «wenn Sie Ihre Stelle aufgeben und Arbeitslosengeld beziehen.»

«Ich denke gar nicht daran», sagte Fräulein Honig, «ich unterrichte für mein Leben gern.»

«Und diese gräßliche Tante», sagte Matilda, «wohnt sie immer noch in Ihrem schönen alten Haus?»

«Das kann man wohl sagen», entgegnete Fräulein Honig. «Sie ist erst gerade über Fünfzig. Sie hat wohl noch eine ziemlich lange Zeit vor sich.»

«Und glauben Sie wirklich, daß Ihr Vater ihr das Haus zugedacht hat?»

«Ich bin fest davon überzeugt, daß er das nicht getan hat», antwortete Fräulein Honig. «Eltern räumen einem Vormund oft das Recht ein, das Haus für eine bestimmte Zeit zu bewohnen, aber der kann es immer nur für das Kind verwalten. Wenn dieses Kind volljährig wird, geht es in seinen oder ihren Besitz über.»

«Dann muß es doch noch Ihr Haus sein?» fragte Matilda.

«Das Testament meines Vaters ist nie gefunden worden», sagte Fräulein Honig. «Es sieht so aus, als ob es jemand vernichtet hätte.»

«Dreimal darf ich raten wer», sagte Matilda.

«Einmal reicht», meinte Fräulein Honig.

«Aber wenn es kein Testament gibt, Fräulein Honig, dann müßte das Haus doch automatisch an Sie fallen. Sie sind doch die nächste Verwandte.»

«Das weiß ich», sagte Fräulein Honig, «aber meine Tante konnte einen Zettel vorweisen, der vermutlich von meinem Vater stammte. Auf dem stand, er wolle das Haus seiner Schwägerin vererben zum Dank dafür, daß sie sich so freundlich um mich gekümmert hätte. Ich bin sicher, das war eine Fälschung. Aber beweisen kann es keiner.»

«Könnten Sie es nicht versuchen?» fragte Matilda. «Könnten Sie nicht einen guten Rechtsanwalt nehmen und darum kämpfen?»

«Dafür habe ich kein Geld», sagte Fräulein Honig, «und du darfst auch nicht vergessen, daß diese Tante von mir eine hochgeachtete Persönlichkeit in der Stadt ist. Sie besitzt einen beträchtlichen Einfluß.»

«Wer ist sie denn?» fragte Matilda.

Fräulein Honig zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie leise: «Fräulein Knüppelkuh.»

Die Namen

«Fräulein Knüppelkuh!» schrie Matilda und hüpfte auf einem Fuß im Kreise. «Wollen Sie behaupten, das wär Ihre Tante? Die hat Sie aufgezogen?»

«Ja», sagte Fräulein Honig.

«Kein Wunder, daß Sie soviel Angst hatten!» rief Matilda. «Gestern hab ich gesehen, wie sie ein Mädchen bei den Zöpfen packte und über den Zaun vom Schulhof schleuderte!»

«Da hast du noch gar nichts gesehen», sagte Fräulein Honig. «Nach dem Tod meines Vaters, als ich fünfeinhalb Jahre alt war, befahl sie mir meistens, alleine zu baden. Und wenn sie heraufkam und dachte, ich hätte mich nicht ordentlich gewaschen, dann drückte sie mir den Kopf unter Wasser und hielt mich so fest. Aber ich will gar nicht damit anfangen, was sie noch für Gewohnheiten hatte. Das wird uns überhaupt nicht weiterhelfen.»

«Nein», sagte Matilda, «das hilft nichts.»

«Wir sind hierhergekommen», sagte Fräulein Honig, «um über dich zu sprechen, und jetzt hab ich die ganze Zeit nur über mich geredet. Ich komme mir ganz albern vor. Ich möchte wirklich viel lieber wissen, was du alles mit deinen erstaunlichen Augen ausrichten kannst.»

«Ich kann Gegenstände bewegen», antwortete Matilda, «das weiß ich bestimmt. Und ich kann Gegenstände umkippen.»

«Was würdest du denn davon halten», sagte Fräulein Honig, «wenn wir in aller Vorsicht ein paar Experimente durchführten, einfach um festzustellen, wieviel du in Bewegung setzen und umkippen kannst?»

Zu ihrer Überraschung erwiderte Matilda: «Wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein Honig, würde ich das, glaube ich, lieber nicht tun. Ich möchte jetzt nach Hause gehen und nachdenken, über alles nachdenken, was ich heute nachmittag gehört habe.»

Fräulein Honig stand sofort auf. «Natürlich», sagte sie, «ich habe dich viel zu lange hier bei mir behalten. Deine Mutter wird schon anfangen, sich Sorgen zu machen.»

«Das macht sie nie», erwiderte Matilda und lächelte, «aber ich würde jetzt trotzdem gern nach Hause gehen, wenn’s Ihnen recht ist.»

«Also dann komm», sagte Fräulein Honig. «Es tut mir leid, daß du nur so einen erbärmlichen Tee bekommen hast.»

«Überhaupt nicht», sagte Matilda, «ich fand es schön.»

Die beiden legten die ganze Strecke bis zu Matildas Haus in tiefem Schweigen zurück. Fräulein Honig spürte, daß es Matilda so am liebsten hatte. Das Kind schien so in Gedanken versunken zu sein, daß es kaum darauf achtete, wohin es ging, und als sie die Gartentür von Matildas Haus erreicht hatten, sagte Fräulein Honig: «Du vergißt am besten alles, was ich dir heute nachmittag erzählt habe.»

«Das kann ich nicht versprechen», sagte Matilda, «aber ich verspreche, daß ich mit keinem darüber reden werde, nicht einmal mit Ihnen.»

«Das wäre, glaube ich, sehr klug», sagte Fräulein Honig.

«Ich kann aber nicht versprechen, daß ich aufhöre, darüber nachzudenken, Fräulein Honig», fuhr Matilda fort. «Ich habe auf dem ganzen Rückweg von Ihrem Häuschen darüber nachgedacht, und ich glaube, ich habe einen allerersten, winzigen Anfang von einer Idee.»

«Das sollst du nicht», sagte Fräulein Honig, «bitte streich das alles aus deinem Gedächtnis.»

«Ich würde Ihnen gerne noch drei allerletzte Fragen stellen, ehe ich nicht mehr davon rede», sagte Matilda. «Ob Sie mir die bitte beantworten, Fräulein Honig?»

Fräulein Honig lächelte. Es war schon etwas ganz Besonderes, sagte sie sich, wie dieses winzige Wesen sich plötzlich ihrer Probleme annahm, und noch dazu mit einer solchen Autorität. «Also», antwortete sie, «das hängt davon ab, was das für Fragen sind.»

«Die erste Frage lautet», sagte Matilda, «wie nannte Fräulein Knüppelkuh Ihren Vater, wenn sie bei sich zu Hause waren?»

«Ich bin sicher, daß sie Magnus zu ihm sagte», antwortete Fräulein Honig, «das war sein Rufname.»

«Und wie nannte Ihr Vater Fräulein Knüppelkuh?»

«Sie heißt Agatha», sagte Fräulein Honig, «und so wird er sie wohl auch genannt haben.»

«Und als letztes», sagte Matilda, «wie sind Sie von Ihrem Vater und von Fräulein Knüppelkuh zu Hause genannt worden?»

«Sie sagten Florentine zu mir», antwortete Fräulein Honig.

Matilda dachte konzentriert über diese Antworten nach. «Ich möchte sicher sein, daß ich alles richtig behalten habe», sagte sie, «bei Ihnen daheim war Ihr Vater Magnus, Fräulein Knüppelkuh Agatha und Sie selber Florentine. Ist das richtig?»

«Das stimmt», sagte Fräulein Honig.

«Danke schön», sagte Matilda, «und jetzt werde ich dieses Thema nie mehr anschneiden.»

Fräulein Honig hätte zu gern gewußt, was im Kopf dieses Kindes vorgehen mochte. «Tu aber nichts Unbedachtes», sagte sie.

Matilda lachte, wandte sich ab, rannte den Weg zu ihrer Haustür entlang und rief dabei: «Auf Wiedersehen, Fräulein Honig! Und vielen Dank für den Tee.»

Die praktische Übung

Matilda fand das Haus wie üblich leer und verlassen vor. Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, ihre Mutter noch nicht vom Bingo, und wo sich ihr Bruder herumtrieb, mochte der Himmel wissen. Sie ging geradewegs ins Wohnzimmer und zog die Schublade der Anrichte auf, in der, wie sie wußte, ihr Vater eine Kiste Zigarren aufhob. Sie nahm sich eine heraus, trug sie in ihr Schlafzimmer hinauf und schloß die Tür hinter sich zu. Jetzt also die praktische Übung, sagte sie sich. Es wird ganz schön haarig sein, aber ich bin fest entschlossen, es muß klappen.

Ihr Hilfsplan für Fräulein Honig begann in ihrer Vorstellung die schönsten Formen anzunehmen. Sie hatte ihn schon fast in allen Einzelheiten fertig, aber am Ende hing alles davon ab, ob sie imstande sein würde, eine einzige spezielle Sache mit ihrer Augenkraft zu schaffen. Sie wußte genau, daß sie es nicht auf Anhieb zustande brächte, aber sie vertraute fest darauf, daß es ihr mit der erforderlichen Übung und Hartnäckigkeit am Ende schon gelingen würde. Die Zigarre spielte dabei eine wesentliche Rolle. Sie war vielleicht etwas dicker, als sie sie gern gehabt hätte, aber das Gewicht war genau richtig. Sie würde gut mit ihr üben können.

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