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Matilda - Roald Dahl

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«Nein, Fräulein Honig», antwortete Matilda ruhig, «mein Vater hat mir nichts beigebracht.»

«Willst du damit sagen, daß du dir alles selber beigebracht hast?»

«Ich weiß nicht genau», antwortete Matilda aufrichtig, «ich finde einfach nur, es ist gar nicht schwer, eine Zahl mit der anderen malzunehmen.»

Fräulein Honig holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.

Sie betrachtete sich abermals das kleine Mädchen mit den lebhaften Augen, das so verständig und gelassen neben seinem Pult stand. «Du sagst, du findest es nicht schwer, eine Zahl mit der anderen zu multiplizieren», sagte Fräulein Honig. «Könntest du versuchen, das ein wenig zu erklären.»

«Ach du liebe Zeit», entgegnete Matilda, «ich weiß wirklich nicht.»

Fräulein Honig wartete. Die Klasse war vollkommen still, alle hatten die Ohren gespitzt.

«Wenn ich dich zum Beispiel», fuhr Fräulein Honig fort, «darum bäte, vierzehn mit neunzehn malzunehmen... Nein, das ist zu schwer...»

«Das ist zweihundertundsechsundsechzig», sagte Matilda leise.

Fräulein Honig starrte sie an, dann griff sie nach einem Bleistift und rechnete sich das Ergebnis rasch auf einem Stück Papier aus. «Wieviel, hast du gesagt?» fragte sie und schaute auf.

«Zweihundertundsechsundsechzig», wiederholte Matilda.

Fräulein Honig legte den Bleistift hin, nahm die Brille ab und begann, die Gläser mit einem Papiertaschentuch blankzureiben. Die Klasse saß mäuschenstill, beobachtete sie und wartete darauf, was als nächstes käme. Matilda stand schweigend neben ihrem Pult.

«Jetzt sag mir einmal, Matilda», fuhr Fräulein Honig fort, während sie weiterpolierte, «versuch mir einmal genau zu beschreiben, was in deinem Kopf vorgeht, wenn du so eine Multiplikation ausführst. Du mußt es ja irgendwie ausrechnen, aber du scheinst fast sofort zu deinem Ergebnis zu kommen. Nimm mal die Aufgabe, die ich dir grade gegeben habe, vierzehn mal neunzehn.»

«Ich... ich... Ich merk mir einfach die Vierzehn und nehm sie mit Neunzehn mal», antwortete Matilda. «Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll. Ich hab mir immer gedacht, wenn das so ein kleiner Taschenrechner kann, warum sollte ich’s nicht auch zustande bringen?»

«Ja, wirklich», sagte Fräulein Honig, «das menschliche Hirn ist etwas Wunderbares.»

«Ich finde, es ist viel besser als ein Stückchen Metall», sagte Matilda, «und mehr ist ein Rechner ja nicht.»

«Wie recht du hast», sagte Fräulein Honig. «Taschenrechner sind übrigens an dieser Schule verboten.» Fräulein Honig fühlte sich ganz zitterig. Sie zweifelte nicht daran, daß sie auf einen wahrhaft außergewöhnlichen mathematischen Verstand gestoßen war, und Begriffe wie frühreifes Wunderkind, Begabung und Auslese schossen ihr durch den Kopf. Sie wußte, daß Wunder dieser Art von Zeit zu Zeit in der Welt auftauchen, aber nur ein- oder zweimal in hundert Jahren. Mozart war schließlich auch erst fünf, als er mit seinen Kompositionen für Klavier begann, und man braucht sich nur anzuschauen, was aus ihm geworden ist.

«Das ist nicht gerecht», sagte Lavendel. «Wieso kann sie das und wir nicht?»

«Keine Angst, Lavendel, du holst sie bald ein», tröstete sie Fräulein Honig mit einer Notlüge.

Und nachdem sie schon so weit gekommen war, konnte Fräulein Honig der Versuchung nicht widerstehen, den Verstand dieses erstaunlichen Kindes noch etwas weiter zu prüfen. Sie wußte, daß sie sich auch dem Rest der Klasse widmen sollte, aber sie war viel zu aufgeregt, um die Angelegenheit schon ruhen zu lassen.

«Also», sagte sie, indem sie so tat, als ob sie sich an die ganze Klasse richtete, «wollen wir die Zahlen mal für einen Augenblick beiseite lassen und sehen, ob sich einer von euch schon mit dem Buchstabieren beschäftigt hat. Hände hoch, wer Katze buchstabieren kann.»

Drei Hände fuhren in die Höhe. Sie gehörten Lavendel, einem kleinen Jungen namens Nigel und Matilda.

«Buchstabiere Katze, Nigel.»

Nigel buchstabierte das Wort.

Fräulein Honig beschloß nun, eine Frage zu stellen, die sie normalerweise nicht mal im Traum an einem ersten Schultag gestellt hätte. «Jetzt möchte ich einmal wissen», fuhr sie fort, «ob einer von euch drei Katzenbuchstabierern auch schon gelernt hat, wie man eine ganze Gruppe von Wörtern liest, wenn sie in einem Satz zusammengefaßt sind.»

«Hab ich», antwortete Nigel.

«Kann ich auch», sagte Lavendel.

Fräulein Honig ging zur Tafel und schrieb mit ihrer weißen Kreide den Satz: Ich habe schon zu lernen begonnen, wie man lange Sätze liest. Sie hatte den Satz mit Absicht etwas schwierig formuliert, und sie wußte, daß es nur ziemlich wenige Fünfjährige gab, die damit zu Rande kamen.

«Kannst du mir sagen, was das heißt, Nigel?» fragte sie.

«Das ist mir zu schwer», antwortete Nigel.

«Lavendel?»

«Das erste Wort heißt ‹Ich›», sagte Lavendel.

«Kann einer von euch den ganzen Satz lesen?» fragte Fräulein Honig und wartete auf das Ja, das, wie sie sicher wußte, von Matilda kommen würde.

«Ja», sagte Matilda.

«Dann los», sagte Fräulein Honig.

Matilda las den Satz ohne das geringste Zögern.

«Das ist wirklich recht gut», stellte Fräulein Honig fest, wobei sie so wie noch nie in ihrem Leben untertrieb. «Wieviel kannst du denn lesen, Matilda?»

«Ich glaube, daß ich die meisten Sachen lesen kann, Fräulein Honig», antwortete Matilda, «wenn ich auch leider nicht immer verstehe, was die Wörter bedeuten.»

Fräulein Honig stand auf und schritt entschlossen aus dem Klassenzimmer, kam jedoch nach dreißig Sekunden mit einem dicken Buch zurück. Sie schlug es wahllos auf und legte es auf Matildas Pult. «Dies ist ein Buch mit lustigen Geschichten», erklärte sie, «probier mal, ob du uns dies vorlesen kannst.»

Ohne zu stocken und ohne eine Pause zu machen, begann Matilda flink und flott vorzulesen:

«Ein Epikur aß in Neuhaus

und fand in der Suppe ‘ne Maus.

Rief der Kellner: Gemach!

Kein Geschrei und kein Krach,

sonst wolln nämlich alle so ‘n Graus!»

Einige Kinder verstanden den Witz des Gedichtes und lachten. Fräulein Honig fragte: «Weißt du, was ein Epikur ist, Matilda?»

«Das ist einer, der beim Essen wählerisch ist», antwortete Matilda.

«Das ist richtig», entgegnete Fräulein Honig. «Und weißt du zufällig auch, wie man diese ganz besondere Art von Gedichten nennt?»

«Das nennt man Limerick», erwiderte Matilda, «und dies ist ein besonders hübscher. Er ist so komisch.»

«Er ist auch ziemlich berühmt», sagte Fräulein Honig, nahm das Buch und kehrte zu ihrem Tisch vor der Klasse zurück. «Einen witzigen Limerick zu verfassen ist sehr schwer», setzte sie hinzu, «sie sehen so leicht aus, sind es aber ganz und gar nicht.»

«Ich weiß», sagte Matilda, «ich hab’s schon ein paarmal versucht, aber meine werden nie sehr gut.»

«Ach wirklich?» fragte Fräulein Honig, deren Verblüffung immer größer wurde. «Also, Matilda, ich würde sehr gerne einen von diesen Limericks hören, die du, wie du sagst, geschrieben hast. Ob du dich vielleicht für uns noch an einen erinnern kannst?»

«Also», antwortete Matilda zögernd, «ich hab eben grad versucht, einen auf Sie zu dichten, Fräulein Honig, während Sie hier gesessen haben.»

«Auf mich!» rief Fräulein Honig. «Na, den wollen wir doch ganz bestimmt hören, nicht wahr?»

«Ich weiß aber nicht, ob ich ihn sagen mag, Fräulein Honig.»

«Ach bitte, tu’s doch», bat Fräulein Honig, «ich versprech dir auch, daß ich nichts übelnehmen werde.»

«Vielleicht tun Sie das doch, Fräulein Honig, denn ich habe Ihren Vornamen benutzt, damit sich die Zeilen reimen, und deshalb möchte ich es doch lieber nicht aufsagen.»

«Woher kennst du denn meinen Vornamen?» fragte Fräulein Honig.

«Ich hab gehört, wie Sie eine andere Lehrerin gerufen hat, kurz bevor wir hier reinkamen», sagte Matilda, «sie hat Sie Flo genannt.»

«Ich bestehe aber darauf, diesen Limerick zu hören», sagte Fräulein Honig, wobei sie übers ganze Gesicht lächelte, was nur sehr selten geschah. «Stell dich hin und sag ihn auf.»

Widerwillig erhob sich Matilda und sagte sehr langsam und zappelig ihren Limerick auf:

«Es fragen sich alle bei Flo

und raten und rätseln nur so:

Gewiß gibt es nicht überall ein Gesicht,

das so hübsch ist wie ihrs? Nirgendwo.»

Fräulein Honigs blasses und freundliches Gesicht wurde puterrot, und sie lächelte abermals. Diesmal aber viel heiterer, so wie man lächelt, wenn man sich wirklich über etwas freut.

«Danke schön, Matilda», sagte sie und lächelte immer noch. «Obwohl es nicht stimmt, ist es ein sehr guter Limerick. Ach je, je, den muß ich wirklich auswendig lernen.»

Aus der dritten Bankreihe sagte Lavendel: «Das ist gut. Das gefällt mir.»

«Und stimmen tut es auch», sagte ein kleiner Junge namens Rupert.

«Und ob es stimmt», sagte Nigel.

Die ganze Klasse schwärmte schon für Fräulein Honig, obgleich sie kaum ein Kind außer Matilda richtig wahrgenommen hatte.

«Wer hat dir das Lesen beigebracht, Matilda?» fragte Fräulein Honig.

«Ich hab’s mir irgendwie selbst beigebracht, Fräulein Honig.»

«Und hast du schon irgendwelche Bücher gelesen, ich meine: Kinderbücher?»

«Ich habe alle gelesen, die es in der Stadtbücherei in der Hauptstraße gibt, Fräulein Honig.»

«Und haben sie dir gefallen?»

«Ein paar fand ich wirklich ganz gut», antwortete Matilda, «aber die meisten waren ziemlich langweilig.»

«Nenn mir eins, das dir gefallen hat.»

‹«Der König von Narnia›», sagte Matilda. «Ich finde, daß Herr C. S. Lewis ein sehr guter Schriftsteller ist. Er hat nur einen Fehler. In seinen Büchern gibt es keine lustigen Stellen.»

«Da hast du recht», entgegnete Fräulein Honig.

«Und bei Herrn Tolkien gibt es auch nicht viele komische Stellen», sagte Matilda.

«Findest du denn, daß alle Kinderbücher etwas Lustiges haben sollten?» fragte Fräulein Honig.

«Ja», antwortete Matilda, «Kinder sind nicht so ernsthaft wie Erwachsene, und sie lachen gerne.»

Fräulein Honig war von der Weisheit dieses kleinen Mädchens vollkommen verblüfft. Sie sagte: «Und was machst du jetzt, nachdem du alle Kinderbücher ausgelesen hast?»

«Ich lese andere Bücher», entgegnete Matilda, «ich leih sie mir aus der Stadtbücherei. Frau Phelps ist sehr nett zu mir. Sie hilft mir bei der Auswahl.»

Fräulein Honig beugte sich weit über ihren Arbeitstisch und betrachtete das Kind voller Staunen. Sie hatte den Rest der Klasse vollkommen vergessen. «Was für andere Bücher?» murmelte sie.

«Charles Dickens mag ich besonders gern», sagte Matilda, «er macht mich immer wieder lachen. Besonders Mr. Pickwick.»

In diesem Augenblick schepperte die Glocke und verkündete das Ende der Schulstunde.

Die Knüppelkuh

Fräulein Honig verließ in der Pause den Klassenraum und ging geradewegs zum Arbeitszimmer der Schulleiterin. Sie war vollkommen außer sich. Sie war auf ein kleines Mädchen gestoßen, das hochbegabt war oder das ihr wenigstens so vorkam. Sie hatte noch nicht feststellen können, wie der genaue Grad dieser Begabung war, hatte aber genug mitgekriegt, um zu dem Schluß zu kommen, daß in dieser Sache so bald wie möglich etwas geschehen mußte. Es wäre geradezu lächerlich, wenn man solch ein Kind bei den Abc-Schützen ließe.

Normalerweise verspürte Fräulein Honig eine heilige Angst vor der Schulleiterin und hielt sich möglichst fern von ihr, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, daß sie es mit jedem aufnehmen könnte. Sie klopfte an die Tür des gefürchteten privaten Arbeitszimmers.

«Herein!» dröhnte die tiefe und gefährliche Stimme von Fräulein Knüppelkuh. Fräulein Honig trat ein.

Schulleiter bekommen ihre Stellung meistens deshalb, weil sie über eine Anzahl von hervorragenden Eigenschaften verfügen. Sie verstehen Kinder, und nichts liegt ihnen so am Herzen wie die Interessen dieser Kinder. Sie sind liebenswürdig. Sie sind gerecht, und sie beschäftigen sich eingehend mit Erziehungsfragen. Fräulein Knüppelkuh besaß jedoch keine dieser Eigenschaften, und wie sie zu ihrer augenblicklichen Stelle gekommen war, blieb ein ewiges Geheimnis.

Sie war zudem ein gewaltiges Weib. Früher war sie eine bekannte Athletin gewesen, und ihre Muskeln fielen einem heute noch auf. Man konnte sie auf ihrem Stiernacken erkennen, den breiten Schultern, den dicken Armen, den sehnigen Handgelenken und an den mächtigen Beinen. Beim Anblick von Fräulein Knüppelkuh bekam man sofort das Gefühl, jemanden vor sich zu haben, der Eisenstangen verbiegen und Telefonbücher quer durchreißen konnte. Auf ihrem Gesicht zeigte sich leider nicht die geringste Spur von Schönheit, noch war es ein erfreulicher Anblick. Sie besaß ein eigensinniges Kinn, einen grausamen Mund und kleine hochmütige Augen. Und was ihre Kleider anbelangt... Sie waren zumindest außergewöhnlich sonderbar. Sie steckte immer in einem braunen Baumwollkittel, der um die Hüften von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Dieser war vorn mit einer riesigen Silberschnalle verschlossen. Die fetten Hüften, die unter dem strammen Gürtel hervorquollen, steckten in merkwürdigen Reithosen aus grobem Köperstoff in einem flaschengrünen Farbton. Diese Hosen reichten bis knapp über die Knie, und dazu trug sie mit Vorliebe grüne Strümpfe, die oben einmal umgeschlagen wurden und ihre Wadenmuskeln in aller Deutlichkeit zeigten. Ihre Füße steckten in flachen braunen Haferlschuhen. Sie sah also, kurz gesagt, eher wie ein ziemlich verrückter und blutdürstiger Jäger hinter der Meute scharfer Jagdhunde aus als wie die Leiterin einer netten Grundschule.

Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. «Ja, Fräulein Honig», sagte sie, «was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Was ist los mit Ihnen? Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?»

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