Matilda - Roald Dahl
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Von da an tauchte Matilda nur einmal in der Woche in der Stadtbücherei auf, um sich neue Bücher zu holen und die ausgelesenen zurückzubringen. Ihr eigenes kleines Schlafzimmer verwandelte sich nun in ein Lesezimmer, und dort saß sie an den meisten Nachmittagen und las, wobei oft ein Becher mit heißer Schokolade neben ihr stand. Sie war noch nicht groß genug, um an alles in der Küche heranzukommen, aber sie bewahrte sich im Schuppen eine kleine Kiste auf, die sie dann hereinschleppte, um daraufzuklettern und sich das zu holen, worauf sie Lust hatte. Am liebsten machte sie sich Schokolade, indem sie Milch in ein Töpfchen goß und auf dem Herd erhitzte, bevor sie sie mit dem Pulver verrührte. Sie nahm meistens Bovril oder Ovaltine. Es war gemütlich, einen heißen Schluck mit hinauf in ihr Zimmer zu nehmen und neben sich zu haben, wenn sie nachmittags in der stillen Stube im leeren Hause saß und las. Die Bücher führten sie in neue Welten und machten sie mit erstaunlichen Menschen bekannt, die ein aufregendes Leben führten. Sie stach mit Joseph Conrad auf altmodischen Segelschiffen in See. Sie folgte Ernest Hemingway nach Afrika und Rudyard Kipling nach Indien. Sie reiste durch die ganze Welt, während sie in ihrem kleinen Zimmer in einem englischen Städtchen saß.
Herr Wurmwald, der große AutohändlerMatildas Eltern besaßen ein recht hübsches Haus mit drei Schlafzimmern im ersten Stock, während es unten ein Eßzimmer und ein Wohnzimmer und eine Küche gab. Ihr Vater war Gebrauchtwagenhändler, und sein Geschäft schien ganz gut zu gehen.
«Sägemehl», pflegte er stolz zu sagen, «das ist eins der großen Geheimnisse meines Erfolgs. Und es kostet mich gar nichts. Ich krieg’s gratis aus der Tischlerei.»
«Wozu brauchst du das denn?» fragte ihn Matilda.
«Ha!» sagte der Vater. «Das möchste wohl gerne wissen.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, wie dir Sägemehl beim Autoverkaufen helfen kann, Vati.»
«Weil du eine dumme kleine Meckerziege bist», antwortete ihr der Vater. Er war in seiner Wortwahl nie sehr zimperlich, aber daran war Matilda gewöhnt. Sie wußte auch, daß er gern angab, und damit zog sie ihn hemmungslos auf.
«Du mußt wirklich schrecklich klug sein, daß du sogar Sachen verwenden kannst, die nichts kosten», sagte sie. «Ich wünschte, das könnte ich auch.»
«Könnste nie», antwortete der Vater, «du bist zu blöd dazu. Aber dem jungen Mike hier, dem könnt ich was erzählen, da hätte ich gar nichts gegen. Eines Tages wird er mich ja sowieso im Geschäft unterstützen.» Er tat also, als ob Matilda Luft wäre, wandte sich an seinen Sohn und dozierte: «Ich bin jedesmal froh, wenn ich einen Wagen erwische, wo so ‘n Vollidiot die Gänge ins Getriebe geknallt hat, daß es ganz ausgeleiert ist und klappert wie verrückt. Die Karre krieg ich billig. Und dann brauch ich nur das Schmieröl tüchtig mit Sägemehl zu vermixen, und schon schnurrt die Kiste wie ein Kater.»
«Und wie lange läuft sie, bis sie wieder anfängt zu klappern?»
«Gerade so lange, daß mir der Käufer weit genug von der Hucke ist», sagte der Vater und grinste, «so ungefähr hundert Kilometer.»
«Aber das ist unehrlich, Vati», sagte Matilda, «das ist Betrug.»
«Mit Ehrlichkeit ist noch keiner reich geworden», entgegnete der Vater. «Kunden sind dazu da, daß man sie über den Löffel halbiert.»
Herr Wurmwald war ein kleiner Kerl, der wie eine Ratte aussah und Raffzähne unter seinem dünnen rattenhaarigen Schnurrbart hatte. Er bevorzugte großkarierte Jacketts in schreienden Farben und hatte eine Leidenschaft für Krawatten in Gelb oder Blaßgrün. «Und dann zum Beispiel der Kilometerzähler», fuhr er fort. «Jeder der einen Gebrauchtwagen kauft, will zuerst wissen, wieviel Kilometer er auf dem Buckel hat. Stimmt’s?»
«Stimmt», sagte der Sohn.
«Ich kaufe also eine alte Rostlaube, die ungefähr hundertfünfzigtausend auf dem Buckel hat. Die krieg ich billig. Aber mit so einem Kilometerstand kauft sie mir keiner ab, oder? Und heutzutage kann man den Kilometerzähler leider nicht mehr wie vor zehn Jahren einfach ausbauen und an den Zahlen rumfummeln. Die stehen sturmfest wie Eichen, hat gar keinen Sinn, damit die Zeit zu vertrödeln, außer du bist so ‘n verflixter Uhrmacher oder so was Ähnliches. Also, was kann ich da machen? Ich benutz meinen Hirnkasten, mein Junge, das ist es.»
«Wie?» fragte der junge Michael gespannt.
Er schien die väterliche Vorliebe für krumme Dinger geerbt zu haben.
«Ich setz mich hin und frage mich, wie kann ich einen Kilometerstand von einhundertfünfzigtausend so in nur zehntausend verwandeln, ohne daß ich den Zähler auseinandernehmen muß? Also, wenn ich den Wagen lange genug rückwärts laufen ließe, dann müßt es wohl klappen, liegt doch klar auf der Hand, nich? Aber wer würde denn so eine verdammte Karre tausend und aber tausend Kilometer rückwärts fahren? Das geht doch gar nicht.»
«Nee, das geht nicht», stimmte der junge Michael zu.
«Also hab ich mich am Kopf gekratzt», fuhr der Vater fort, «und hab meinen Hirnkasten angestrengt. Wenn einem so ein schlauer Kopf gegeben ist, wie ich ihn hab, dann muß man ihn auch nutzen. Und plötzlich hab ich die Antwort gehabt. Ich kann dir sagen, ich hab mich genauso gefühlt, wie sich dieser andere schlaue Kerl gefühlt haben muß, als er das Penicillin entdeckt hat. Eureka! hab ich geschrien. Ich hab’s!»
«Und was hast du gemacht, Vati?» fragte ihn der Sohn.
«Der Kilometerzähler», erklärte Herr Wurmwald, «hängt an einem Kabel, das mit einem der Vorderräder verbunden ist. Ich hab deshalb als erstes das Kabel da abgeklemmt, wo es am Vorderrad sitzt. Als nächstes hab ich mir eine von diesen Bohrmaschinen besorgt, und dann hab ich das Kabel so an den Bohrer angeschlossen, daß es rückwärts läuft, wenn sich der Bohrer dreht. Kapiert? Kannste mir soweit folgen?»
«Ja, Vati», antwortete der junge Michael.
«Diese Bohrmaschinen laufen ja mit enormer Geschwindigkeit», sagte der Vater. «Wenn ich den Bohrer also anschalte, dann rasen die Zahlen wie wahnsinnig zurück. Mit meiner Superbohrmaschine hau ich dir fünfzigtausend Kilometer im Handumdrehen weg. Und am Ende hat die Karre nur zehntausend drauf und ist fix und fertig für den Verkauf. Sie ist so gut wie neu, sag ich dem Kunden, keine zehntausend gelaufen. Hat einer alten Dame gehört, die damit nur einmal in der Woche zum Einkaufen gefahren ist.»
«Kannst du den Kilometerstand wirklich mit einer Bohrmaschine zurückdrehen?» fragte der junge Michael.
«Ich verrate dir Geschäftsgeheimnisse», antwortete der Vater. «Laß dir nur ja nicht einfallen, mit wem anders drüber zu reden. Du willst mich doch nicht ins Kittchen bringen, oder?»
«Keiner Seele werd ich davon erzählen», sagte der Junge. «Haste das mit vielen Wagen gemacht, Vati?»
«Jeder einzelnen Karre, die durch meine Hände geht, verpaß ich die Behandlung», erwiderte der Vater, «Eh sie zum Verkauf angeboten werden, frisier ich ihnen den Kilometerstand auf unter zehn. Wenn ich nur daran denke, daß ich das ganz allein erfunden habe!» setzte er stolz hinzu «Es hat mich steinreich gemacht.»
Matilda, die genau zugehört hatte, sagte: «Aber Vati, das ist ja sogar noch unehrlicher als das mit dem Sägemehl. Es ist gemein. Du betrügst Leute, die dir vertrauen.»
«Wenn’s dir nicht paßt, brauchst du in diesem Hause nichts mehr zu essen», sagte der Vater, «alles ist von dem Profit gekauft.»
«Von schmutzigem Geld», sagte Matilda, «widerlich.»
Auf den Wangen des Vaters tauchten zwei rote Flecken auf. «Verflucht noch mal, was bildest du dir denn ein, wer du bist», schrie er, «der Erzbischof von Canterbury vielleicht, der mir ‘ne Predigt über Ehrlichkeit hält? Du bist nichts als ein dummes kleines Fräulein Naseweis, und du hast keinen Schatten einer Ahnung, wovon du redest!»
«Vollkommen richtig, Harry», sagte die Mutter und zu Matilda: «Sei nicht so frech zu deinem Vater. Und jetzt klapp deinen vorlauten Mund zu, damit wir in Ruhe fernsehen können.»
Sie saßen im Wohnzimmer und aßen ihr Abendbrot vor dem Fernsehapparat. Es bestand aus einem Fernsehmenü in wabbeligen Aluminiumbehältern mit verschieden großen Abteilungen für das gekochte Fleisch, die Salzkartoffeln und die Erbsen.
Frau Wurmwald mampfte die Mahlzeit, ohne die Augen vom Bildschirm und der amerikanischen Familienserie zu lösen. Sie war eine große Frau, deren Haare wasserstoffblond gefärbt waren, bis auf den Ansatz, der wieder mausbraun aus den Wurzeln wuchs. Sie war stark geschminkt und hatte eine dieser unglücklichen auseinanderlaufenden Figuren, bei denen das Fleisch irgendwie an den Körper geschnallt zu sein scheint, damit er nicht auseinanderfällt.
«Mami», sagte Matilda, «darf ich mit meinem Abendbrot ins Eßzimmer gehen, damit ich lesen kann?»
Der Vater warf ihr einen strengen Blick zu. «Kommt nicht in Frage!» schnauzte er sie an. «Beim Abendbrot versammelt sich die ganze Familie, und vorm letzten Bissen verläßt keiner den Tisch!»
«Aber wir sitzen ja gar nicht am Tisch», erwiderte Matilda, «das tun wir doch nie. Wir essen immer von den Knien und sehen fern.»
«Und was hast du dagegen? Würdest du mir das vielleicht einmal verraten?» fragte der Vater. Seine Stimme klang plötzlich sanft und gefährlich.
Matilda traute sich nicht, ihm zu antworten, deshalb hielt sie den Mund. Sie spürte aber, wie der Zorn in ihr kochte. Sie wußte, daß es nicht recht war, seine Eltern so zu hassen, aber es fiel ihr sehr schwer, es nicht zu tun. Ihre Lektüre hatte ihr Einblicke ins Leben vermittelt, die ihre Eltern nie gewonnen hatten. Wenn sie nur ein bißchen Dickens oder Kipling läsen, dann würden sie rasch verstehen, daß das Leben aus mehr besteht als aus Gaunertricks und Fernsehen.
Und noch etwas. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr unaufhörlich einredete, sie sei dumm und dämlich, obgleich sie genau wußte, daß sie keins von beiden war. Die Wut in ihrem Bauch hörte nicht auf zu kochen, und als sie an diesem Abend glücklich im Bett lag, faßte sie einen Entschluß. Jedesmal wenn ihr Vater oder ihre Mutter gemein zu ihr waren, wollte sie es ihnen auf irgendeine Art und Weise heimzahlen. Ein kleiner Sieg, vielleicht sogar zwei mußten ihr helfen, den elterlichen Schwachsinn zu ertragen, ohne den Verstand zu verlieren. Ihr dürft nicht vergessen, sie war erst knapp fünf Jahre alt, und für eine so Kleine ist es nicht leicht, zu Pluspunkten gegen die allmächtigen Erwachsenen zu kommen. Sie war aber trotzdem entschlossen, den Versuch zu wagen. Nach dem, was an diesem Abend vorm Fernsehapparat geschehen war, stand ihr Vater zuoberst auf der Liste.
Der Hut und der SekundenkleberAm nächsten Morgen huschte Matilda, kurz bevor der Vater zu seiner widerwärtigen Gebrauchtwagenwerkstatt aufbrach, in die Garderobe und nahm sich den Hut, den er täglich zur Arbeit trug. Um ihn vom Haken zu angeln, mußte sie sich auf die Zehenspitzen stellen und einen Spazierstock zu Hilfe nehmen, und selbst so hätte sie es fast nicht geschafft. Der Hut war einer von diesen flachen weichen, die wie eine Schweinefleischpastete aussehen. Herr Wurmwald war sehr stolz darauf und hatte sich eine Eichelhäherfeder hinters Hutband gesteckt. Er fand, daß ihm der Hut ein verwegenes und kühnes Aussehen verlieh, besonders wenn er ihn sich zu seiner großkarierten Jacke und seiner grünen Krawatte schief auf den Kopf setzte.
Matilda hielt den Hut in der einen und eine dünne Tube Sekundenkleber in der anderen Hand und begann, den Kleber in einer feinen Wurst säuberlich und präzise innen aufs Schweißleder zu quetschen. Dann hängte sie den Hut mit Hilfe des Spazierstocks wieder vorsichtig auf den Haken. Sie hatte sich den Zeitpunkt dieser Operation sehr genau ausgerechnet, den Klebstoff also erst in dem Augenblick aufgetragen, in dem der Vater vom Frühstückstisch aufstand.
Als sich Herr Wurmwald den Hut aufsetzte, merkte er gar nichts. Aber als er in der Garage war, konnte er ihn nicht abnehmen. Sekundenkleber wirkt rasch und klebt Hautteile in Sekunden fest. Wenn man dann zu kräftig zerrt, reißt man sich die Haut ab. Herr Wurmwald wollte nicht gern skalpiert werden, und deshalb mußte er den Hut den ganzen Tag auf dem Kopf behalten, selbst als er Sägemehl ins Schmieröl mengte und mit seiner Bohrmaschine den Kilometerstand der Wagen frisierte. Um sich nicht lächerlich zu machen, zog er ein gleichgültiges Gesicht und hoffte, seine Angestellten glaubten, daß er den Hut aus Jux und mit voller Absicht den ganzen Tag lang auf dem Kopf behielte, so wie die Gangster in Filmen.
Als er am Abend nach Hause kam, konnte er den Hut immer noch nicht abnehmen. «Sei nicht albern», sagte seine Frau, «komm her. Ich setz ihn dir ab.»
Sie riß einmal kräftig an dem Hut. Herr Wurmwald jaulte so laut auf, daß die Fensterscheiben klirrten. «Aua, au, au, au!» heulte er. «Laß das! Laß los! Du reißt mir ja die halbe Haut von der Stirn!»
Matilda, die es sich in ihrem angestammten Sessel gemütlich gemacht hatte, beobachtete dieses Ereignis mit einer gewissen Anteilnahme über den Rand ihres Buches hinweg.
«Was ist denn los, Vati?» fragte sie. «Ist dir dein Schädel geschwollen oder was?»
Der Vater starrte die Tochter mit mörderischem Mißtrauen an, gab aber keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Frau Wurmwald bemerkte: «Das muß Schnellkleber sein. Kann gar nichts anderes sein. Das sollte dich lehren, mit diesem scheußlichen Zeugs vorsichtiger umzugehen. Wahrscheinlich hast du dir noch eine Feder an den Hut stecken wollen.»
«Ich hab das verdammte Zeug nicht angerührt!» brüllte Herr Wurmwald. Er drehte sich um und starrte abermals Matilda an, die seinen Blick mit großen unschuldigen braunen Augen erwiderte.
Frau Wurmwald sagte zu ihm: «Man sollte immer zuerst die Gebrauchsanweisung auf der Tube lesen, eh man anfängt, mit so gefährlichen Sachen herumzuwirtschaften. Man braucht sich nur an die Gebrauchsanweisungen zu halten.»