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Blumenberg - Sibylle Lewitscharoff

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Aber solchen Tumulten hatte er sich längst entzogen. Diskussionen anzuzetteln, um sich selbst Gehör zu verschaffen, um darin zu brillieren, das war vorbei. Natürlich erregte auch heute noch der eine oder andere Student seine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel gab es da dieses Mädchen in der ersten Reihe, das immer auf demselben Platz saß und jede seiner Gesten wie gebannt verfolgte. Aber nach und nach war ihm das Interesse an den Studenten, das er in den Anfangsjahren seines Unterrichts durchaus lebhaft verspürt hatte, abhanden gekommen.

Für heute hatte sich ein Gerhard Baur angemeldet. Pünktlich um 16 Uhr 15 klopfte es, und ein langer dünner Mensch trat ein. Blumenberg erinnerte sich, daß der junge Mann schon einmal in der Sprechstunde gewesen war und einen günstigen Eindruck hinterlassen hatte. Gleich beim ersten Besuch war Blumenberg Reinhold Schneider in den Sinn gekommen, der auch ein fadendünner Zweimetermann gewesen war und sich immer gebeugt gehalten hatte, um die zwanzig Zentimeter ungeschehen zu machen, die er zuviel maß.

Der junge Baur war gewiß weniger melancholisch, als der Dichter es gewesen war, sein offenes Gesicht mit den geröteten Backen und dem wie bei einem Pagen hängenden Haar erweckte in Blumenberg väterliche Gefühle. Dazu hatte er Segelohren, vorwitzige Lauscher, die als rosige Scheibchen durch das glatte braune Haar brachen.

Blumenberg bat ihn, an dem kleinen runden Tisch in einem der tiefen Sessel Platz zu nehmen, die für Besucher reserviert waren, und setzte sich neben ihn. Vom Fenster aus sah man direkt auf den Domplatz. Blumenberg residierte auf dem Domhügel, in einem bescheidenen Zimmer zwar, aber in exponierter Lage. Keiner der beiden würdigte den Dom eines Blicks.

Baur druckste auch nicht lange herum, warum er denn gekommen war. Von Blumenbergs Wissen sei er schier überwältigt, bekannte er ein und lächelte dazu verlegen, er könne höchstens zehn Prozent, wahrscheinlich weniger aufnehmen von dem, was ihm in den Vorlesungen geboten würde, trotzdem wolle er es wagen, sich an eine Arbeit zu machen, um darin einige der berühmten ken und biblischen Heroen zu vergleichen — Herkules, Perseus, Mopsos, Samson, wobei ihm Samson, der von allen Frauen verratene Samson, der sich so poetisch habe ausdrücken können, besonders am Herzen liege. Dazu wollte er Blumenbergs Rat einholen.

Was die zehn Prozent anlangte, konnte der Professor ihn beruhigen. Auch der wissensdurstigste Mensch könne immer nur das aufnehmen, was sich gerade in den eigenen Kosmos des Denkens einfügen lasse, und damit wirtschaften. Baurs Thema fand er lohnenswert; eine schöne Beute versprach besonders der Vergleich zwischen Herkules und Samson, wie ihn Baur noch etwas unsicher zwar, aber mit flackernden Redeflämmchen skizzierte. Blumenberg verlor sich in Gedanken an die hünenhafte Gestalt des jüdischen Muskelprotz’ mit den sieben Zöpfen; zitternd, einsam und zerrieben von Leidenschaften den göttlichen Heilsplan erfüllend, war an ihm viel Kindliches, die Kindlichkeit des Leckermauls etwa, das mit der bloßen Hand Honig aus dem Skelett des Löwen geschöpft hatte.

Was Blumenberg in den letzten Jahren eher von sich ferngehalten hatte, nahm er jetzt wieder auf: er ermunterte den Studenten, ihm über den Fortgang der Arbeit zu schreiben, mit Hinweisen und Kommentaren werde er ihm zur Seite stehen.

Baurs Ohrenscheibchen glühten vor Freude, als er behutsam die Klinke des Sprechzimmers niederdrückte und leise, leise, als müsse der Schlaf eines Säuglings behütet werden, die gepolsterte Doppeltür hinter sich schloß.

Blumenberg fühlte sich wohl. Die Bescheidenheit des jungen Mannes, sein Eifer, die Intelligenz, die aus manchen seiner Redewendungen hervorblitzte, waren ein Beweis: es war doch nicht alles umsonst, was er lehrte. Einiges davon landete in den auffangsamen Ohren eines Studenten, keimte und sprießte dort auf überraschende Weise. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dem jungen Baur über den Kopf streichen zu wollen, um ihn zu behüten.

Wenig später verließ er das Gebäude. Heute hatte er Lust, zu gehen und für den Weg nach Altenberge nicht gleich ins Auto zu steigen. Es war ja ein herrlich frühabendlich warmer Tag, nicht heiß, nicht zu kühl, genau das richtige Wetter für einen Spaziergang. Er entschloß sich zu einer kleinen Runde entlang der Aa. Alle Blätter hatte der Spätfrühling in Vollendung herausgetrieben, noch kaum eines war von Raupen skelettiert worden oder krümmte sich staubverkrustet um seinen Stengel. Leichte Raschelwinde waren in die Bäume gefahren, ihre Äste schienen zu winken. In den feuchten Blumenbeeten glühte es rosa, weiß, rot, lavendelfarben. Zwei verirrte Enten watschelten über den dunstigen Rasen. Er blieb stehen und versank in der Betrachtung einer braunen Tulpe; mit sehr geradem Stengel, würdevoll erhobenen Hauptes, ganz für sich stand sie inmitten ihrer buntfarbenen Schwestern, die krumm und fröhlich durcheinanderwuchsen.

Der Anblick ihrer bepelzten Staubbeutel von intensiv leuchtendem Schwarz begleitete ihn noch einige Schritte, bis er sich allmählich verlor. Unterwegs drehte er sich zu mehreren Malen um. Ob der Löwe ihm folgte? Nein, der Löwe zeigte sich nicht. Was wäre, wenn seine Familie von der Existenz des Löwen erfahren würde? Nicht durch ihn, er würde ja kein Wort darüber verlieren. Aber seine Frau, seine Tochter, die Söhne waren schlau, keineswegs fühllos bezüglich wichtiger Dinge, die um ihn herum geschahen, wer wußte es, vielleicht teilte sich zumindest der Löwengeruch ihnen mit. Er lachte bei der Idee, man würde in seinem Haushalt nun riesige Fleischportionen für den Löwen täglich bereitstellen und ihm diese in einem übergroßen Hundenapf servieren. Andererseits war dieser sehr spezielle Löwe wahrscheinlich jahrhundertelang ohne Fleischzufuhr ausgekommen.

Er mußte unbedingt in Erfahrung bringen, wem sich der Löwe beigesellt, wem er zuvor gedient hatte. Mit Fleisch? Ohne Fleisch? Ohne Fleisch, entschied Blumenberg. Der Witz des Löwen bestand gerade darin, daß er existierte, ohne nach Art seiner Naturbrüder die ihm gemäße Portion Fleisch zu verschlingen. Er tauchte auf und verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen, hatte es nicht nötig, die Tatzenabdrücke mit dem Quast seines Schwanzes zu verwischen, um die allegorische Christusnähe unter Beweis zu stellen (was im Arbeitszimmer oder im Hörsaal ohnehin unmöglich gewesen wäre); er mußte nicht aller Welt zeigen, daß er ähnliches tat wie Christus, der seine Göttlichkeit als Mensch immer wieder verborgen hatte. Sein Löwe hinterließ keinen Löwenkot und keine Haare auf dem Teppich, jedenfalls nicht 1982, nicht in der Stadt Münster an diesem schönen Maitag, über dem jetzt die Dämmerung aufschwoll, die ihn beendete.

Der Löwe II

Auf dem Weg zum Parkplatz kam er an der Skulptur von Ulrich Rückriem vorüber, die im Gras aufragte und viel Unmut erregt hatte und noch immer erregte. Die auf der Vorderseite eher gerade abfallenden, hinten schräg verlaufenden Platten, die nebeneinander gestellt Felswände simulierten, hielt Blumenberg für entbehrlich, aber sein Ärger ging nicht so weit, daß er sich deswegen öffentlich hätte äußern wollen. Da die Platten immer wieder beschmiert wurden und dann gereinigt werden mußten, konnte das Moos die Unglücksskulptur nicht von allen Seiten überziehen und in ein grünliches Ungefähr entrücken. Im regenreichen Münster hätte das Moos sonst bereits ganze Arbeit geleistet.

An scheußlichen Skulpturen gab es in der Stadt keinen Mangel. Das häßlichste Monument war die Statue des Grafen von Galen, des Löwen von Münster, der im Dritten Reich gegen die Euthanasieprogramme und die Umtriebe der Geheimen Staatspolizei von der Kanzel aus zu Felde gezogen war. Ein stattlicher Mann, ein westfälischer Hüne mit wuchtigem Kopf und Donnerstimme, der sich nichts hatte gefallen lassen und schon 1934, in einem Osterbrief, die neuen Machthaber in ihrem gottwidrigen Denken und Handeln angegriffen hatte. Fest, hart, zäh wie ein Amboß, auf den er sich so gerne berief, war der Mann gewesen. Die Statue, die ihn vorstellen sollte, war übel. Eine verkitschte, verschlankte Skulptur, deren Ästhetik aus der NS-Zeit herrührte; allerdings hatte der Künstler die Muskeln und auch sonst alles, was den Löwen von Münster ausgemacht hatte, weggeschliffen oder fortgelassen. In unpersönlich fader Geradheit, den rechten Arm lächerlich erhoben, als jämmerlicher Popanz stand die Gestalt auf ihrer Stele; ihr war nicht zuzutrauen, daß sie auch nur einen Pieps gegen die Tötungsmaschinerie zustande gebracht hatte.

Während der Heimfahrt erfreute sich Blumenberg an dem saftigen Grün, das in Wiesen und Tälern im Kontrast zu den schwarzen Waldinseln noch immer aus der Dämmerung hervorleuchtete. Er war in gehobener Stimmung und erwartete die Nacht.

Der Abend verlief wie üblich, mit dem einzigen Unterschied, daß er Lust auf eine ordentliche Portion Rindfleisch verspürte und mehr davon aß als gewöhnlich. Gegen neun suchte Blumenberg sein Arbeitszimmer auf und war enttäuscht. Kein Löwe. Er tat das Übliche, las, überarbeitete den inzwischen abgeschriebenen Text der vorletzten Nacht, machte sich Notizen, drückte den Knopf der Stenorette und diktierte seiner Sekretärin einen weiteren Teil. Als er dazwischen von den beschriebenen Blättern aufsah, war der Löwe wieder zur Stelle.

Er lag in derselben Position auf dem Teppich wie in der letzten Nacht. Habhaft. Fellhaft. Gelb. Keinerlei Formunruhe zeigte sich an ihm, die zu Zweifeln an seiner Existenz berechtigt hätte.

Diesmal wandelte ihn das Verlangen übermächtig an, den Löwen zu berühren; der Löwe schien gar nicht abgeneigt, einen vorsichtigen Kontakt — Hand zu Fell — zu empfangen. Blumenberg war schon im Begriff, aufzustehen und zu ihm hinüberzugehen, doch rechtzeitig besann er sich auf das Gebot der actio per distans und blieb sitzen. Zu große Nähe konnte alles zerstören. Der Vorteil der Distanz lag darin, daß er sich nur in gehörigem Abstand zutrauen durfte, für ein im Metaphysischen zitterndes Wesen das Gemeinsame der Verständnisweise und der ihnen beiden zugrundeliegenden geschöpflichen Wahrheit zu erkunden. Vielleicht war jetzt zum ersten Mal, indem er den Löwen nicht berührte, die Möglichkeit zur Wahrheit überhaupt gegeben.

Der Löwe war gekommen, ihn in seinem Wesen zu hegen, wie dies kein Mensch je für ihn getan hatte oder je würde für ihn tun können. Einerseits. Andererseits war es bedauerlich, daß der Löwe keinerlei Wildheit gezeigt oder gar zum Sprung auf ihn angesetzt hatte. Sonst hätte er, Blumenberg, wie einst Hieronymus in einer wohlkomponierten Haltung der Andacht und mit süßer Beredsamkeit dem Löwen Zurückhaltung aufnötigen müssen. Zähmung der Wildheit durch Rhetorik und fromme Gesten! Blumenberg ärgerte sich, daß man ihm offenbar nicht die allerkleinste Kraftprobe zutraute, mußte sich aber sagen, daß er es in puncto Rhetorik zwar mit dem Kirchenlehrer hätte aufnehmen können, niemals aber wären ihm dessen andächtige Vollendungsposen gelungen. Den Glauben hatte Blumenberg zwar verloren, nicht aber die Liebe zur Kirche.

Der Löwe zeigte sich wieder in seiner vertrauten Altersform. Ob er in seiner Jugend andere Löwen gezeugt hatte? In seinem zerrupften Zustand war ihm das kaum zuzutrauen. Blumenberg gelang es nicht, in seinem Löwen den Erzeuger kleiner Katzbälger zu sehen, die umeinander tapsten, maunzten, grollten, in Knäueln aufeinander lagen und die Mäuler genießerisch aufrissen.

Er drückte auf den Knopf der Stenorette und diktierte: Tiefsinniger Frager: Was ist das für ein Löwe? Leichtfertiger Antworter: Alle Löwen sind Löwen. Tiefsinniger Frager: Ob das auf diesen speziellen, etwas blasiert dreinblickenden, von mir womöglich allzu heftig herbeigewünschten Löwen auch zutrifft? Leichtfertiger Antworter: Einer unter vielen anderen. Tiefsinniger Frager: Vielleicht ist jeder ein anderer. Leichtfertiger Antworter: Alle sind anders und doch ein und dieselben.

Er hielt inne. Er bekam Lust zu einem sonderbaren Experiment. War der Löwe der Wahrheit verpflichtet? Wie würde er auf eine Lüge reagieren? Oder auf etwas Improvisiertes, so ein leichterdings dahingeflunkertes Märchen? Blumenberg tat, als spräche er in sein Gerät, hatte aber die Aufnahmetaste nicht gedrückt und behielt den Löwen im Auge: Hier, auf diesem Stuhl, sitzt ein Schuster.

Keine Reaktion von seiten des Löwen.

Blumenberg zögerte einen Moment und besann sich. Dann redete er mit einem Schmelz, der ihm ziemlich schwül vorkam, auf seinen Gast ein: Das ist die Geschichte vom alten, sehr alten, ja uralten Löwen, der sich nach einer Jahrhunderte währenden Schlafperiode erneut zu bemerken gab. Wie schon die eifrigen Kinder wissen, die Löwenbücher lesen und Löwen im Zoo besuchen, wird ein Löwe in der freien Wildbahn höchstens sechs bis sieben Jahre alt. Entweder es kommt ein jüngerer, kräftigerer Löwe und tötet ihn, oder er wird vertrieben und muß schmählich verhungern. Da haben es die Löwinnen besser; sie bleiben im Rudel und können in der Jagdgemeinschaft bis zu zwanzig Jahre alt werden. Im Zoo ist natürlich die Möglichkeit gegeben, daß auch ein Löwenmann ziemlich alt wird, manchmal bringt es der gefangene Löwe sogar bis auf dreißig Jahre. Aber der Löwe, von dem ich erzählen will, wurde — Blumenberg räusperte sich, weil ihm der Schwung abhanden gekommen war — sehr, sehr alt.

Der Löwe gähnte und zeigte dabei etwas von seinem Gebiß.

Er hatte wohl zuviel Salbung in seinen Ton gelegt. Leise, aber eindringlich fuhr Blumenberg fort: Die Geschichte vom Löwen, die hier nicht den Kindern, sondern den Büchern, dem Schreibtisch und einem gähnenden Löwen erzählt wird, der womöglich nur dem Anschein nach ein Löwe ist, beginnt aber nicht im Zoo, sondern woanders. Sie beginnt in der Wüste. Dort, wo alles knochentrocken ist und alle Gedanken brennend sind, zugleich klar und hart, kam Bewegung in einen Hügel aus Sand: der alte Löwe war wieder erwacht. Er hatte sich erhoben und den Wüstenstaub aus seiner Mähne geschüttelt. Nach Jahrhunderten war wieder Leben in ihn gefahren, er hatte sich erhoben, um die Wüste zu verlassen und einem bedeutenden Mann Gesellschaft zu leisten.

Dieses Mal sollte sein Besuch aber keinem Heiligen gelten, sondern einem Philosophen. Man hätte denken können, daß vielleicht Ludwig Wittgenstein oder Edmund Husserl — wer wollte sich hier so genau festlegen —, vielleicht sogar der gewölbte Schnauzbart Friedrich Nietzsches ihn aus der Wüste gelockt hätten, aber nein, ein zurückgezogener Philosoph in Münster war’s, der dort redlich die Dienste eines Universitätsprofessors versah und sehnsüchtig darauf wartete, daß einer käme und mit einem Tatzenschlag den Weltzusammenhang wiederherstellte, über dessen Verlust zu philosophieren bei gleichzeitiger Trauer um diesen Verlust seine nächtlichen Geschäfte waren.

Blumenberg stockte. Gar zu albern kam er sich vor bei diesen Tiraden, besonders die Worte zurückgezogen und redlich schmeckten ihm nicht. Der Löwe hatte nur einmal gegähnt und sonst wie bisher in aller Gemütsruhe durch ihn hindurchgesehen, aber Blumenberg wollte bemerkt haben, daß kleine ironische Flämmchen in seinen Augen geglüht hatten. Ein kaum wahrnehmbares Flackern war es gewesen, mehr nicht.

Eine unangenehme Pause trat ein. Blumenberg hatte sich verrannt. Einfach so zu tun, als wäre kein Löwe da, gelang ihm nicht. Das Tier beherrschte sein Denken und Fühlen, und es machte ihn nervös, daß sich der Löwe so ruhig aufführte oder vielmehr nicht aufführte und sein Benehmen indifferent blieb in bezug auf Wahrheitsproben oder rhetorische Märchenspiele oder werweißwasimmer.

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